Das Erbe
Auch wenn die Annunaki aus den sumerischen Überlieferungen verschwanden, blieb ihr Echo in späteren Kulturen spürbar. Ihre Spuren ziehen sich wie ein unsichtbarer Faden durch die Mythologien der Welt – immer transformiert, immer neu benannt, doch im Kern dasselbe Muster: Wesen, die vom Himmel kamen, die den Menschen Wissen brachten, ihn lenkten, ihn straften.
In Babylon und Assyrien lebten die alten Götter weiter, aber in veränderter Form. Enki wurde zu Ea, Herr des Wassers und der Weisheit. Inanna wurde zur Ishtar, Göttin von Liebe und Krieg, verehrt mit riesigen Tempeln, gefürchtet wegen ihrer Unberechenbarkeit. Enlil blieb als mächtige, oft furchterregende Gestalt bestehen, auch wenn seine Funktionen in andere Götter übergingen. Der sumerische Ursprung war vergessen, aber die Rollen blieben erhalten: Richter, Retter, Schöpfer, Zerstörer.
In Ägypten taucht das Motiv in neuer Gestalt auf. Isis, Osiris, Horus, Thoth – sie alle tragen Züge, die an das Pantheon von Sumer erinnern. Besonders auffällig ist der Gedanke, dass das Königtum göttlichen Ursprungs sei. Wie in Mesopotamien hieß es auch am Nil: Die Herrscher regieren nicht durch eigene Kraft, sondern weil die Götter ihnen das Recht dazu gaben. Auch hier finden sich Götter, die Technik und Wissen vermitteln, die Astronomie lehren, die Baukunst begründen. Die Parallele zum Muster der Annunaki ist unübersehbar.
In den indischen Veden erscheinen die Devas, himmlische Wesen, die in Vimanas – Flugmaschinen – über den Himmel ziehen, Kriege führen und die Menschen beeinflussen. Manche Beschreibungen dieser Fluggeräte klingen wie technische Handbücher: Antriebe, Energiequellen, Waffen. Auch hier findet sich das doppelte Motiv: göttliche Lehrer auf der einen Seite, zerstörerische Krieger auf der anderen. Die Nähe zu Enki und Enlil, zu Förderung und Vernichtung, ist frappierend.
In der Bibel schließlich taucht das Motiv wieder auf, allerdings verschleiert. Die "Söhne Gottes", die mit den "Töchtern der Menschen" Kinder zeugten, erinnern an die Vorstellung der Annunaki, die sich mit Menschen verbanden. Die "Nephilim", die Riesen der Vorzeit, wirken wie eine späte Reflexion der sumerischen Überlieferung von Götterkindern und Halbwesen. Auch die Sintflutgeschichte, in der ein Mensch von Gott oder Engeln gewarnt wird, spiegelt fast wörtlich die Atrahasis-Legende wider, in der Enki dem Menschen den Bau einer Arche befiehlt. Es sind nicht dieselben Namen, aber dieselben Archetypen.
Das Erbe der Annunaki ist daher nicht nur ein archäologisches Relikt, sondern ein globales Muster. Überall erscheinen dieselben Grundmotive: Wesen, die vom Himmel kommen, Wissen bringen, Menschen lenken, Kriege führen, Katastrophen auslösen. Überall taucht dieselbe Ambivalenz auf: Förderung und Vernichtung, Rettung und Strafe, Nähe und Distanz.
In der Moderne wurde dieses Erbe neu gedeutet. Forscher wie Zecharia Sitchin sahen in den Annunaki keine bloßen Götter, sondern außerirdische Besucher, die vor Jahrtausenden Einfluss nahmen. In der UFO-Forschung erscheinen sie als mögliche Vorläufer der heutigen "Wesen", als die ersten, die Kontakt aufnahmen, ihre Rolle spielten und dann verschwanden. Ob man diese Theorie akzeptiert oder nicht: Das Muster ist unbestreitbar.
Die Annunaki sind das Erbe, das sich nicht auslöschen ließ. Von den Keilschrifttafeln bis in die Mythen der Bibel, von den Tempeln Mesopotamiens bis in die Legenden Indiens und Ägyptens – sie blieben gegenwärtig, wenn auch maskiert. Kein Donner, kein Blitz – nur das Nachhallen jener, die "vom Himmel kamen", deren Namen sich wandelten, deren Rollen sich veränderten, die aber immer dieselbe Spur hinterließen: die Erinnerung, dass die Menschheit nicht allein war, als sie ihre ersten Schritte in die Zivilisation