Leben unter den Annunaki
Die sumerischen Texte lassen erkennen, dass das Leben der frühen Menschen untrennbar mit den Annunaki verbunden war. Sie stellten nicht nur eine ferne Gottheit dar, die man verehrte, sondern waren in den Mythen konkrete Herrscher, die mit den Menschen interagierten, Befehle gaben, Strafen verhängten und Belohnungen verteilten. Die Sumerer lebten in einer Ordnung, in der sie ihre Existenz nicht als unabhängig empfanden, sondern als ein Arrangement mit übergeordneten Mächten, die "vom Himmel gekommen" waren.
Im Zentrum dieser Beziehung stand die Vorstellung, dass die Menschen geschaffen oder angepasst worden waren, um den Annunaki zu dienen. In den Keilschriften heißt es, dass die Götter zunächst selbst die Arbeit auf der Erde verrichten mussten – Ackerbau, Kanäle graben, Städte bauen. Doch sie ermüdeten, sie murrten, und so beschlossen sie, den Menschen zu formen, damit er die Last trage. Ninhursag, die Muttergöttin, Enki und andere sollen an dieser Schöpfung beteiligt gewesen sein. Der Mensch war also kein freies Wesen, sondern von Anfang an ein Diener, erschaffen, um die Arbeit der "vom Himmel Gekommenen" zu übernehmen.
Diese Vorstellung spiegelt sich im Alltag wider. Alle Bereiche des Lebens waren auf die Annunaki ausgerichtet: Tempel dienten als Zentren der Verwaltung, Opfergaben wurden als Pflicht angesehen, Könige herrschten nur im Namen der Götter. Die Sumerer schrieben selbst, dass das Königtum "vom Himmel herabstieg" – ein Hinweis, dass Herrschaft nicht als menschliche Erfindung galt, sondern als direkte Übertragung von jenen, die über den Himmel geboten.
Doch die Beziehung war nicht nur aus Zwang geformt. In den Mythen zeigen die Annunaki auch eine Rolle als Lehrer. Enki brachte den Menschen heimlich Wissen: über Astronomie, über Heilkunst, über die Kunst des Schreibens. Dieses doppelte Muster – Unterdrückung auf der einen Seite, Förderung auf der anderen – durchzieht die gesamte sumerische Kultur. Der Mensch war Diener und Schüler zugleich, abhängig, aber auch Empfänger von Wissen, das über seine eigenen Möglichkeiten hinausging.
Die Mythen berichten auch von Prüfungen und Strafen. Wenn die Menschen zu zahlreich oder störend wurden, beschlossen die Annunaki, sie zu vernichten – in Form einer großen Flut. Nur durch Enkis heimliche Hilfe überlebte ein Teil der Menschheit, der gewarnt wurde und ein Schiff baute. Dieses Motiv – die Sintflut – findet sich später in der Bibel, im Gilgamesch-Epos und in unzähligen anderen Kulturen. Immer steht dahinter dieselbe Botschaft: das Leben der Menschen hängt nicht allein von ihnen ab, sondern vom Willen jener, die über ihnen stehen.
Das Alltagsleben unter den Annunaki war also geprägt von einem paradoxen Verhältnis: einerseits Abhängigkeit und Zwangsarbeit, andererseits der Stolz, von den Göttern ausgewählt zu sein und von ihnen Wissen zu empfangen. Tempel und Paläste wurden in ihrem Namen gebaut, Herrschaft legitimierte sich durch sie, und jede Ordnung, sei es Recht oder Astronomie, wurde auf ihre Initiative zurückgeführt.
Für die Sumerer war dies kein Glaube, sondern Realität. Die Annunaki waren gegenwärtig, sie schufen, sie bestimmten, sie urteilten. Der Mensch war nicht Schöpfer seines eigenen Schicksals, sondern Teilnehmer in einem Spiel, das von himmlischen Kräften gelenkt wurde. Kein Donner, kein Blitz – nur das Gefühl, dass jede Ernte, jede Stadt, jedes Leben das Ergebnis einer Vereinbarung war, die nicht unter Menschen, sondern mit Göttern geschlossen wurde.

